“Konflikte sind Wachstumsnahrung”

Cartoon zum Thema Wie man Konflikte im Alltag lösen kann

„Konflikte enthalten seelische Vitamine und Spurenelemente in hoher Dosierung. Sie sind Wachstumsnahrung, die wir für die mitmenschliche Reifung brauchen“, sagt der Aargauer Coach und Mediator Erich Lustig. In diesem Interview erklärt er, wie man Konflikte so löst, dass am Ende alle glücklich sind.

Erich Lustig, was passiert, wenn wir in einen Konflikt geraten?
„Die Evolution hat für Konflikte drei Verteidigungsformen entwickelt: Angriff, Flucht oder Totstellen. Doch jeder Konflikt aktiviert blitzschnell archaische Überlebensimpulse. Der Körper wird hormonell geflutet und schickt sämtliche Energien an die Kriegsfront. Jedes Mal, wenn wir in einen Konflikt eintreten, werden sofort Vorverletzungen neu aktiviert. Der neurobiologische Urmechanismus potenziert sich mit allen Erfahrungen, die wir seit der Geburt gesammelt haben.“

Darunter auch viele schmerzliche?
„So ist es. Trotzdem sind Konflikte im Grunde nur das Ergebnis der Tatsache, dass wir Menschen so verschieden sind. Wir denken, fühlen, wollen und handeln unterschiedlich. Leider ignorieren wir diese Tatsache ein Leben lang immer wieder! Deshalb sagt der Talmud: Wir sehen die Dinge nicht wie sie sind, sondern wie wir sind.  Dass wir die andern laufend mit uns selbst verwechseln, ist der tragikomischste und folgenschwerste Irrtum überhaupt: in der Partnerschaft, in der Kindererziehung, bei der Arbeit, in der Politik, wo auch immer.“

Cartoon zum Thema Beleidigt sein

Können wir wenigstens den Verstand als Rettungsanker beiziehen?
„Kaum. Bei Konfliktalarm ist die Verbindung zum Verstand in der Regel gekappt. Im besten Fall flackert noch so etwas wie tierische Schlauheit oder Hinterlist auf. Steinzeit im Computerzeitalter! Unser Gehirn reagiert auch heute noch prähistorisch und suggeriert uns, dass wir in einem normalen sozialen Konflikt ums Überleben kämpfen. Selbst wenn gar keine Lebensgefahr besteht.“

Unsere Gesellschaft ist wettbewerbsorientiert – auch in Konfliktsituationen?
„Ja, das spiegelt sich überall. Wir laufen bei Konflikten Gefahr, dass das primitive Gesetz „Ich gewinnen! – Du verlieren!’ – unser ganzes Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Wollen, Verhalten und Handeln beherrscht. Ein Röhrenblick entsteht. Wir machen das Gegenüber zum Monster. Gleichzeitig berauschen wir uns am Gefühl eigener Korrektheit: Wir sind tadellos. Die andern Dämonen oder zumindest Idioten.“

Wie im Kleinen, so im Großen…
„Exakt. In dieser unbewussten Grundlage ziehen wir in Kriege, egal ob es sich um Kriege zwischen Religionen, Völkern, Nachbarn oder Liebespartner handelt. Mitten in einem Konflikt werden wir zu Zivilisten auf dem Kriegspfad. Dann verbringen wir Zeit in unserer inneren Waffenkammer und grübeln, womit wir dem Gegner am besten Schaden zufügen können. Mal wählen wir das Schwert der Analyse, dann den Speer der Moral, dann die Streitaxt des Drohens, die Keule des Tröstens, die Daumenschraube des Manipulierens, die Hellebarde der Ratschläge, den Morgenstern des Spottens oder die Peitsche der Verachtung.“

Cartoon von Karin Beatz, karindrawings.com
Klingt unangenehm. Und wie beendet man das Schlamassel?

„Indem wir uns in Konfliktsituationen sofort vor Augen halten, dass ein Missverständnis, eine Verwechslung, ein Irrtum, eine Fehleinschätzung, eine Projektion oder ähnliches vorliegen kann. Und indem wir den Mut aufbringen, das Gute im Gegenüber zu sehen. Wenn wir das nicht tun, mutieren wir zu Gefangenen unserer selbst. Am Ende kämpfen dann nur noch zwei Bilder gegeneinander: Das Bild, das sich A von B geschaffen hat, kämpft gegen jenes, das sich B von A gemalt hat. Der höhere Sinn von Konflikten besteht jedoch darin, vorhandene Unterschiede zu verdeutlichen und fruchtbar zu machen.“

Konflikte bewirken oft Verletzungen…
„Das ist richtig und es gibt wohl niemanden, der sich im stillen Kämmerlein nicht elend fühlt, wenn die Fetzen fliegen, erloschene Vulkane ausbrechen und emotionaler Eisregen fällt. Was wir in Konflikten mit uns und anderen tun, ist nicht gerade schmeichelhaft. Im Inneren jedoch geht es um sehr fragile und existenzielle Dinge.“

Was für Dinge sind das?
Für die großen Konfliktforscher wie Marshall B. Rosenberg, Thomas Gordon, Friedrich Glasl oder Friedemann Schulz von Thun besteht die Wurzel des zwischenmenschlichen Konfliktes in einer Bedürfnisnot. Es sind bedrohte Bedürfnisse, die wir in starken Emotionen zum Ausdruck bringen. Menschen verhalten sich gemäss der Bedeutung, die etwas für sie hat. Fragt man nach der Bedeutung, stößt man auf Bedürfnisse, oder anders ausgedrückt: auf Interessen.
Diese zugrunde liegenden Emotionen und Bedürfnisse muss man unbedingt erkennen, sonst bleiben Narben zurück und eine nachhaltige Konfliktlösung wird nahezu chancenlos.“

Ist das der Grund, warum zwischenmenschliche Konflikte nicht selten zu keiner Win-Win-Lösung führen?
„Die große Schwierigkeit liegt darin, dass wir für das, was mit uns geschieht, weder ein Bewusstsein noch eine Sprache haben. Diese Schwierigkeit richtet sich nach innen und aussen: Nach innen fällt es uns schwer, mit uns selbst in Kontakt zu kommen, nach aussen mit unserem Gegenüber. Im Streit verlieren wir die Verbindung zu unserer einfühlsamen Natur.“

Das heisst zur Fähigkeit, uns in andere einzufühlen?
„Das auch, aber nicht primär. Gemeint ist zunächst mal die Fähigkeit zur Selbsteinfühlung. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass wir uns in andere einfühlen können. Daran etwas zu ändern verlangt seelisches Bodybuilding. Bevor wir nämlich zu den Bedürfnissen vorstossen, haben wir es mit Gefühlen zu tun, die sich schützend und tarnend davorstellen.“

Cartoon karindrawings.com zum Thema Gefühle und Konflikte
Woher kommen diese Gefühle?

„Wir holen die Energie für den Konfliktkampf aus einer sehr tiefen, verletzlichen Schicht unserer Psyche. Auf dieser Ebene, der Primärgefühle, werden seit der Kindheit die intensivsten, existenziellsten Ur-Ängste und Ur-Verletzungen verborgen aufgeschichtet: Ausgeliefertsein, Unverstandensein, Beschämung, Entbehrung, Verlassenheit, Einsamkeit, Verstossensein, Trauer, Verzweiflung, Gebrochensein, Betrogensein, Kränkungen und so weiter. Es ist der Bereich der inneren Not und des inneren Hungers.“

Aus der gleichen Ebene kommt aber auch Angenehmes!
„Selbstverständlich. Zum Beispiel Sicherheit, Geborgenheit, Zuwendung, Intimität, Würde, Wertschätzung, Dazugehören, Vertrauen, Verständnis, Unterstützung, Wachstum, Sinn. Eine Bedrohung dieser Ur-Gefühle bzw. Ur-Bedürfnisse wird allerdings derart massiv erlebt, dass zu ihrer Tarnung sofort Abwehrgefühle in den Kampf geschickt werden.“

Wie äußern sich diese Abwehrgefühle?
„In der weicheren Variante als Verweigerung, Selbstmitleid und Opferhaltung. In der härteren Spielart als Empörung, Trotz, Ärger, Aggression, Wut, Drohung, Hass, Verachtung, Missgunst, Gier, Hinterhältigkeit oder physische Gewalt.
Über unseren Abwehrgefühlen liegt eine dicke Tarnschicht sozialer Anpassung: Zuverlässigkeit, Sauberkeit, Pünktlichkeit, Kontrolliertheit. Alles idealtypische Qualitäten aus der Welt der Stelleninserate.“

Bis ein Konflikt entsteht und die Schutzschicht Risse bekommt…
„Genau. Wobei die Ursache oder die Eskalation eines Konflikts immer der Gegenseite unterschoben wird, selber reagiert man nur.“

Cartoon von karindrawings.com zum Thema Brainstorming

Wie soll man da inneren und äusseren Frieden finden?
„Konfliktwirbel verursachen auch Aufwinde. Diese kann man nutzen. Zunächst mal darf man keine Angst vor Emotionen haben. Sie sind das Tor zu unseren Kränkungen, Nöten, Bedürfnissen, Hoffnungen und Wünschen.
Das Rezept der Konfliktprofis ist vom Prinzip her einfach: Wer sich verstanden fühlt, kann andere verstehen. Wer verstehen kann, wird verstanden. Wie gut das gelingt, hängt davon ab, wie viel soziale Muskulatur man schon aufgebaut hat.“

Was bedeutet soziale Muskulatur genau?
„Die emotionale und soziale Intelligenz eines Menschen. Ein wirksamer Konflikt-Dialog geht weit über das hinaus, was wir gemeinhin unter Kommunikation verstehen. Da geraten plötzlich seelische und soziale Muskeln in Bewegung. Deren Potenzial war zwar immer schon da, doch sie wurden noch nie benutzt. Das kann zu Beginn schon mal Gehirnkater auslösen. Was also zeigt sich, wenn die emotionale Aufladung verdampft ist? Bedürfnisse! Diesen gilt es eine Sprache zu geben.“

Und wie?
Eine sehr effiziente Möglichkeit ist das berühmte Modell der Gewaltfreien Kommunikation. Es wurde durch den Soziologen Marshall B. Rosenberg entwickelt. Die Gewaltfreie Kommunikation geht davon aus, dass Menschen ein tiefes Bedürfnis haben, zum Wohlergehen anderer beizutragen. Die Freude am Geben und Nehmen entspricht unserem natürlichen Wesen. Der erste wichtige Schritt dorthin ist Mitgefühl. Für sich selbst, für die eigene Wut, die eigenen Bedürfnisse.“

Getreu der Erkenntnis, dass man andere nicht spüren kann, wenn man sich selbst nicht spürt?
„Das ist die Grundlage. Hier fängt das Training an. Es geht erstens darum, sich die eigenen Gefühle, Bedürfnisse und Werte bewusst zu machen. Wir müssen nicht perfekt sein. Ein solches Einfühlen können wir auch im normalen, konfliktfreien Alltag üben. Das Wichtigste beim Mitgefühl ist Präsenz und Langsamkeit. Zweitens geht es darum, sich klar darüber zu werden, wie man die eigene Lebensqualität verbessern, das eigene Leben bereichern kann.“

Cartoon von karindrawings.com, gefühle ehrlich aussprechen

Viele Menschen wissen das doch und sind trotzdem mittelmässige oder schlechte Konfliktlöser.
„Mag sein, doch kommunizieren sie ihre Gefühle, Bedürfnisse und Werte auch angemessen? Rosenberg regt dazu an, dass wir unsere Bedürfnisse und Wünsche ehrlich und ohne Kritik aussprechen. Ausserdem, dass wir die Reaktionen des Gegenübers einfühlsam aufnehmen.“

Welches sind die praktischen Schritte der Gewaltfreien Kommunikation?
Es gibt deren vier. Der erste Schritt heisst: Beobachte andere, ohne sie zu bewerten! Elias Canetti sagt dazu: Der Unterschied zwischen Beobachten und Urteilen ist wie Atmen und Beissen. Der zweite Schritt heißt: Drücke die eigenen Gefühle aus! Beim dritten Schritt geht es darum, die eigenen Bedürfnisse auszusprechen. Also: Sag‘, was Du brauchst!  Schritt vier lässt sich so auf den Punkt bringen: Bitte ohne zu fordern!“

Was bedeutet das, bitten ohne zu fordern?
„Die Erfahrung zeigt, dass eine „Bitte“ oft gar keine ist, sondern im Grund eine verkleidete Erwartung, Forderung oder gar Bedingung. Die echte Bitte erkennt man daran, dass das Gegenüber sie ablehnen darf, ohne dass ich deswegen austicke.
Ihr zweites Merkmal ist, dass mich der Grund des „Nein“ ehrlich interessiert. Tut es das nicht, geht es mir nur darum, Macht auszuüben beziehungsweise zu gewinnen. Rosenberg sagt: ‚Willst du Recht haben oder glücklich sein? Beides geht nicht‘.
Die Gewaltfreie Kommunikation empfiehlt deshalb, bei einem „Nein“ des Gegenübers zu erforschen, was den anderen am Erfüllen meiner Bitte hindert.“

Cartoon zeigt Cartoon von Karin Baetz zeigt Handshake/Konfliktlösung

Es ist nicht einfach, diese Richtlinien im Alltag umzusetzen…
„Das kann sogar dialogische Schwerstarbeit sein. Doch sie ermöglicht, dass man sich zu einer Lösung vorarbeitet, über die am Schluss beide Konfliktpartner glücklich sind. Gewaltfreie Kommunikation ist eine Art Solarenergie des Zusammenlebens von morgen. Wir brauchen sie, um effektivere Wege zu finden als Bedürfnisstillung über materiellen Konsum und äussere Leistung. Die verblüffende Wirkung entsteht übrigens nicht durch eine technisch einwandfreie Anwendung, sondern durch die innere Präsenz und Herzenskraft. Es geht um die Haltung, nicht um die Methode.“

Danke für das Gespräch, Erich Lustig!

PS: Nicht immer gelingt es in zwischenmenschlichen Konflikten archaische Reflexe unter Kontrolle zu bringen und eine konstruktive Lösung zu entwickeln. In solchen Fällen können Meditatoren bzw. Meditatorinnen eine grosse Hilfe sein. Sie sind auf das komplexe Lösen von Streitfällen spezialisiert. Die Hilfe eines Mediators kann die Nerven und das Portemonnaie schonen; häufig zum Beispiel, weil sie  den Gang vor Gericht ersparen.

Mediator Erich Lustig erklärt, wie man Konflikte so löst, dass am Ende alles glücklich sind.
Erich Lustig: “Wir brauchen Konflikte, weil wir ihre Geschenke benötigen.“

Cartoons: karindrawings.com

Buchtipps

Rudi Ballreich, Friedrich Glasl: Mediation in Bewegung. Concadora 2007 Friedrich Glasl: Konfliktmanagement. Haupt/Freies Geistesleben 2004
Daniel Goleman: Emotionale Intelligenz. dtv 1997
Soziale Intelligenz. Droemer Knaur 2008
Thomas Gordon: Familienkonferenz. Heyne 2008
Lehrer-Schüler-Konferenz. Heyne 2008 Anita von Hertel: Grrr! Warum wir miteinander streiten und wie wir davon profitieren können. Campus 2006
Gerald Hüther: Brainwash – Einführung in die Neurobiologie für Therapeuten und Pädagogen. Auditorium 2006 (DVD)
Simone Pöhlmann, Angela Roethe: Streiten will gelernt sein. Herder 2004
Marshall B. Rosenberg: Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation. Herder 2004. (Taschenbuch und Hörbuch)
Serena Rust: Wenn die Giraffe mit dem Wolf tanzt. Koha 2009
Gerhard Schwarz: Konfliktmanagement. Gabler 2007
Christoph Thomann, Friedemann Schulz von Thun, Christian Prior: Klärungshilfe 1-3. Rowohlt 2007

Cartoons: Karin Baetz, www.karindrawings.com