Medikamente schlucken und trotzdem nicht gesund werden? Es geht auch anders. Immer mehr PatientInnen werden dank einer Ernährungstherapie gesund. Selbst von chronischen Erkrankungen Betroffene. Warum Ernährungsmedizin funktioniert.
Hilde Weingartner im Schweizer Dorf Cordast (FR) staunte nicht schlecht, als ihr rechter Arm nach der Geburt des zweiten Kindes dick anschwoll und heftig schmerzte.
Die 33-Jährige wartet drei Tage, dann geht sie zum Arzt. Dieser diagnostiziert «eine chronische Polyarthritis».
Das verordnete Kortison hilft eine Weile, dann kehren die Schwellungen und Schmerzen zurück. Diesmal auch an den Händen, Fingern und an der Hüfte. Bald kann die Mutter von drei Kindern nicht mehr ohne Schmerzen gehen, die Hausarbeit wird immer mühsamer.
Der Arzt verschreibt erneut Medikamente. Die junge Frau schluckt sie täglich, fast fünf Jahre lang. Dann merkt sie: «Von den Medikamenten bekomme ich Magenbeschwerden und gesünder werde ich auch nicht. Ich muss mir selber helfen!»
Statt zu weiteren Ärzten geht sie in die nächste Buchhandlung und kauft das ‹Handbuch für Rheuma- und Arthritiskranke› von Dr. med. Maximilian Bircher-Benner. Was darin steht, muss Hildegard Weingartner erst einmal verdauen: «Das klingt ja ganz anders als das, was die meisten Ärzte über Rheuma sagen!»
Trotzdem beschliesst sie, das Gelesene zu testen: Sechs Wochen lang isst sie weder Fleisch noch rasch verdauliche Kohlenhydrate. Stattdessen viel mild gewürztes Gemüse, Gartenkräuter, Salat an Olivenöl und einem Schuss Zitronensaft, vorwiegend einheimische Früchte, Mandeln und Nüsse, als Eiweissquelle Quark. Um die ungewohnte Kost «zu überstehen», gönnt sie sich ab und zu ein wenig Milch und einen Riegel Schockolade.
Das Ergebnis nach sechs Wochen: «Die Magenbeschwerden sind weg, ich fühle mich bereits viel vitaler», sagt Hildegard Weingartner und führt das Experiment weiter. Mit der Folge, dass ihre rheumatischen Beschwerden samt Schmerzen komplett verschwinden.
Das geschah vor 50 Jahren. Hilde Weingartner ist auch heute noch gesund und komplett rheumafrei. Sie ernährt sich nach wie vor vegetarisch und meidet Kuhmilch strikt. Medikamente nimmt sie keine ein.
Fachleute der integrativen Medizin bestätigen, dass die meisten rheumatischen Erkrankungen ernährungsbedingt bzw. -mitbedingt sind. Warum unterziehen sich trotzdem nur die wenigsten Patienten einer Ernährungstherapie?
«Wir gehen in der Schulmedizin nicht bis zu den Ursachen, sondern nur bis zu einer Diagnose. Diese ist meist ein reiner Symptomenbeschrieb», sagt Dr. med. Andres Bircher, Leiter des Medizinischen Zentrums Bircher-Benner in Braunwald bei Glarus.
Vom Beschrieb der Symptome gehe es gleich weiter zu den Medikamenten, welche die lästigen Krankheitssymptome unterdrücken. Das Problem dabei: «Die reine Symptomunterdrückung richtet sich gegen die Lebens- und Heilungskraft des Organismus. Dadurch werden Krankheiten chronisch», sagt der Komplementärmediziner.
Der Enkel der berühmten „Birchermüesli-Doktors“ Maximilian Bircher-Benner weiss, wovon er spricht: Andres Bircher hat Tausenden von Patienten mit Ernährungsmedizin und naturheilkundlichen Massnahmen geholfen.
Das können die wenigsten Ärzte von sich sagen. Im Medizinstudium wird Ernährungsmedizin nicht unterrichtet. Und nur wenige Ärzte absolvieren nach dem Studium eine Zusatzausbildung in Ernährungsmedizin.
«Wo das ernährungsmedizinische Wissen fehlt, wird dem Patienten eine wichtige, natürliche Behandlungsmöglichkeit vorenthalten», sagt auch der deutsche Ernährungsmediziner Dr. med. Matthias Riedl.
Der Hamburger kämpft seit 20 Jahren für die Anerkennung der Ernährungsmedizin. «Früher wurde meine Arbeit als Scharlatanerie bezeichnet. Die Kunden wagten nicht, dem Hausarzt zu sagen, dass sie bei mir waren», erinnert sich der 55-Jährige. «Wenn ich beispielsweise zu einem Kardiologen sagte, dass wir mit der Ernährung die Blutfettwerte verbessern können, bekam ich zu hören: «So ein Quatsch! Sie überfordern die Patienten!»
Erst seit einigen Jahren kämen immer mehr Ärzte mit dem Wunsch, mehr über Ernährungstherapie zu erfahren. Weil sie ohne diese nicht mehr weiterkommen.
Tatsächlich hat sich im nördlichen Nachbarland einiges getan: Ärztinnen und Ärzte können an der Deutschen Akademie für Ernährungsmedizin eine berufsbegleitende Ausbildung zum Ernährungsmediziner absolvieren. Eine bundesweit anerkannte Qualifikation!
Über 6000 praktizierende Ärzte haben die Ausbildung bereits besucht. Einziger Wermutstropfen: Die ernährungsmedizinische Beratung kann noch nicht zufriedenstellend über die Krankenkassen abgerechnet werden.
Vorläufiges Fazit: Die Kassen zahlen nichts, und trotzdem suchen immer mehr ratlose Patienten Hilfe bei den deutschen ‹Ernährungs-Docs›. Deren bekannteste Vertreter sind die Fachärzte Matthias Riedl, Anne Fleck und Jörn Klasen.
Die drei Ernährungs-Profis machen Nägel mit Köpfen: Seit vier Jahren zeigen sie in der Dokumentarsendung „Ernährungs-Docs“ des Norddeutschen Fernsehens, wie gesundes Essen Menschen mit massiven Gesundheitsproblemen mehr hilft als Tabletten. Oft bereits innert wenigen Monaten. Und über eine Million Zuschauer verfolgen am Bildschirm, wie solche ‹Wunder› möglich werden. Vom ersten Besuch in der Praxis über die Auswertung der Ernährungsgewohnheiten bis zum Therapieerfolg.
Eins steht fest: «Der Patient muss mitarbeiten, ohne ihn geht es nicht», sagt Matthias Riedl.
Das bedeutet für die meisten: alte Gewohnheiten umprägen!
Keine einfache Aufgabe. Doch laut Matthias Riedl führt eine ‹Politik der kleinen Schritte› in der Regel zum Erfolg: «Früher wurde einem gesagt, wie man essen ‹muss›. Heute brechen wir die Regeln auf den Patienten runter. Auch wenn der Patient nur zehn bis zwanzig Prozent seiner Essgewohnheiten ändert, bringt das bereits einen messbaren Erfolg. Das weckt Freude und die Bereitschaft, sich auf weitere Veränderungen einzulassen.»
So geschehen bei der 9-jährigen Merle Harbers aus Lilienthal. Ihre Mutter brachte die Kleine, die zweimal täglich Cortisonsalbe einstreichen musste, zu den Hamburger Ernährungsmedizinern. Dort lernten Mutter und Tochter, welche Lebensmittel die Neurodermitis-Schübe auslösen und wie sich der Stress der Haut von Innen her mit den richtigen Nahrungsmitteln lindern lässt.
Zum Beispiel mit einem täglich genossenen süssen Smoothie aus Banane, Avocado, roter Beete, Honig, Ingwer und Kokosmilch. Die Folge der Ernährungsanpassung nach fünf Monaten: Merles Hautbild hat sich stark gebessert, die Neurodermitis ist am Abheilen.
Auch männliche Patienten suchen immer öfters die Hilfe der Ernährungsmediziner. Da ist zum Beispiel Christoph Freiburger. In der Praxis der Ernährungs-Docs erfährt der 150-Kilo-Mann, wie er seinen ‹Fressattacken› entgegenwirken kann.
Der Verkaufsleiter beherzigt die Tipps und Tricks der Profis. Er optimiert seine Ernährungsweise, gönnt sich aber trotzdem ab und zu ein wenig Schockolade.
Ergebnis nach fünf Monaten: Christoph Freiburger hat 17 kg weniger auf den Rippen, der hohe Entzündungswert im Blut, den das Bauchfett verursacht hatte, ist dramatisch gesunken und ‹nebenbei› hat sich auch die Schlafapnoe stark gebessert. Der 48-Jährige ist begeistert: «Das Ganze hat sich in jedem Fall gelohnt!»
Epidemiologische Studien belegen den Zusammenhang zwischen Gesundheit und Ernährung. Im Praxisalltag zeigt sich, dass die Ernährungsmedizin tatsächlich bei den meisten Zivilisationserkrankungen eine sinnvolle Behandlungsoption darstellt.
Dabei spielt auch das ‹Wie› der Ernährung eine Rolle. ‹Ernährungs-Doc› Jörn Klasen sagt in diesem Zusammenhang: «Ich sehe zu viele Menschen, die ihre Nahrung in der Hektik, zwischen Tür und Angel, zu sich nehmen. Verdauung bezieht sich nicht nur auf unsere Lebensmittel. Wir machen im Seelischen die gleichen Fehler wie mit der Ernährung.»
Letzteres ist denn auch der Grund für die therapieresistenten Fälle, denen die Ernährungs-Docs hin und wieder begegnen. «In solchen Fällen raten wir dem Patienten, sich von einem Psychologen Tipps und Tricks geben zu lassen», sagt Matthias Riedl. «Das hilft praktisch immer, denn Körper und Seele sind eine Einheit.»
In Deutschland gibt es mittlerweile rund 100 akkreditierte Schwerpunktpraxen Ernährungsmedizin. Anders in der Schweiz: Wer einen erfahrenen Ernährungsmediziner finden will, sucht oft lange. Die wenigen, die es gibt, sind meist in Kliniken und an Spitälern tätig, in der Regel mit dem Fokus der «Klinischen Ernährung›, also der Behandlung von Pathologien wie zum Beispiel Mangelzuständen. Andere arbeiten vor allem mit hochdosierten, orthomolekulären Präparaten.
Kommt hinzu, dass die wenigsten Patienten die Vorteile einer professionellen Ernährungstherapie und die langfristigen Nachteile einer Medikamenteneinnahme abwägen können. Gewählt wird meist, was ‹einfacher› bzw. ‹bequemer› erscheint. Also fast immer das Medikament statt die enge Zusammenarbeit mit einem ‹Ernährungs-Doc› oder einer Ernährungsberaterin.
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Bis 70 % der Erkrankungen sind „ernährungsbedingt“
Forscher sagen, dass falsche Ernährung 50 bis 70 Prozent der Erkrankungen (mit)verursacht. Zum Beispiel Adipositas, Allergien, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen, Gicht, Hautkrankheiten wie Akne, Neurodermitis und Ekzem, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Magen-Darm-Erkrankungen wie Morbus Crohn, Colitis ulcerosa, Sprue, Pankreaserkrankungen, Reflux, Reizdarmsyndrom, Rheumatoide Arthritis, Arthritis psoriatica, Fibromyalgie, Degenerative Gelenkerkrankungen wie Arthrose, Wirbelsäulen-Syndrom u.a..
Das Portemonnaie hilft mit
Die Bemühungen der Ernährungsmedizin werden durch die Nahrungs- und Genussmittelindustrie durchkreuzt. Deshalb fordern Mediziner ernährungspolitische Reformen.
Zum Beispiel den Wegfall der Mehrwertsteuer auf Früchte und Gemüse. Ausserdem höhere Steuern für ungesunde Produkte mit viel zugesetztem Zucker oder Fett.
Studien aus anderen Ländern belegen, dass Steueranpassungen das ungesunde Essverhalten tatsächlich positiv beeinflussen können! So geschehen in Grossbritannien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Mexiko, Ungarn und weiteren Ländern.
Genusssteuer ist fairer
In Deutschland und der Schweiz betonen Politiker gerne die „Mündigkeit“ der Bürger. Auch ihr Recht, ungesund zu essen.
Obwohl der Einzelne nur 30% der ernährungsbedingten Kosten trägt. Den Rest bezahlt die Allgemeinheit. Vorab in Form steigender Krankenkassenprämien.
Maßnahmen wie eine «Zuckersteuer» oder eine «Fettsteuer» könnten die Kosten fairer verteilen. Dass sie obendrein funktionieren, zeigen Versuche in anderen Ländern.
Schweiz
– Eine Adressliste von qualifizierten ErnährungsberaterInnen ist erhältlich bei der Schweiz. Gesellschaft für Ernährung, Bern, Tel. 31 385 00 00, www.sge.ch
– Eine Adressliste von ernährungsmedizinisch offenen Ärzten und Naturärzten in der Schweiz gibt es unter www.swissveg.ch/experten
– Auch eine Überweisung durch den Hausarzt an die Ernährungsberatung eines Kantonsspitals oder einer Universitätsklinik ist möglich.
Deutschland
– Adressen von ‹Schwerpunkt-Praxen Ernährungsmedizin› in ganz Deutschland gibt es beim Bundesverband Deutscher Ernährungsmediziner, Girardetstr. 8, 45131 Essen, Tel.: (0049) 0201 799 89 311, www.bdem.de, info@bdem.de
– Adressen von qualifizierten ErnährungsberaterInnen sind erhältlich beim Verband der Diätassistenten – Deutscher Bundesverband VDD, Susannastr. 13 – 45136 Essen, (0040) 0201-94 68 53 70, www.vdd.de
Buchtipp
‹Die Ernährungs-Docs: Wie Sie mit der richtigen Ernährung Krankheiten vorbeugen und heilen können›
ZS Verlag 2018
246 Seiten
ISBN 978-3-89883-861-0
Buchtipp
Dr. med. Andres Bircher: ‹Handbuch für Frischsäfte, Rohkost und Früchtespeisen›
Edition Bircher-Benner 2014
78 Seiten
ISBN 978-2-9700722-3-2