Der Zürcher Psychologe Prof. Dr. Jürg Frick hat das Phänomen des Verwöhnens genau untersucht. Sein Fazit? „Viele Eltern merken gar nicht, dass sie ihre Kinder verwöhnen. Das hat weitreichende negative Folgen für die verwöhnten Kinder.“ Das sind die bewährten Tipps für Eltern.
Der zwölfjährige Max mag teure Dinge: Sein Fahrrad ist ein exklusives Mountainbike, sein Handy ein hochwertiges iPhone, die Uhr am Handgelenk eine kostspielige Markenuhr. Doch nun hat der in Muri bei Bern wohnende Junge seine drei „Statussymbole“ innerhalb von wenigen Monaten verloren bzw. kaputt gemacht.
Pech, dass die Eltern nicht daran denken, die teuren Hilfsmittel zu ersetzen! Sie wollen, dass Max lernt, auf seine Sachen achtzugeben und ein Gefühl für den Wert der Dinge bekommt.
In vielen Schweizer Familien geht es anders zu und her: Die Kinder werden regelmässig mit teuren Markenartikeln „versorgt“, verlorene oder kaputt „gemachte“ Konsumartikel und Kleider umgehend ersetzt. Dabei neigen durchaus nicht nur wohlhabende Eltern zum Verwöhnen: „Auch materiell randständige Eltern machen häufig Zusatzarbeit, um die Verwöhnbedürfnisse ihrer Kinder zu erfüllen“, weiss die in Gossau SG tätige Schulpsychologin Marlis Eeg-Blöchliger. „Die meisten Eltern sind sich gar nicht bewusst, wie rasch Verwöhnung entsteht.“
Diese Ansicht teilt auch der Psychologe Prof. Dr. Jürg Frick, Dozent an der Pädagogischen Hochschule Zürich: „Viele Eltern versuchen unermüdlich, es ihren Kindern recht zu machen, möchten ihr Kind glücklich sehen. Das ist ein Fehler, denn Glücksgefühle und Zufriedenheit sind Empfindungen, die wir selber entwickeln müssen. Erwachsene können Heranwachsende nur unterstützen.“
Jürg Frick beschäftigt sich seit 25 Jahren mit dem Phänomen des Verwöhnens. Sein Fazit: „Das verwöhnte Kind bekommt das psychologisch Wesentliche für seine Entwicklung gerade nicht. Der verwöhnende Erziehungsstil geschieht wohlmeinend, in bester Absicht. Doch er bringt das Kind um die Chance, Fähigkeiten und Kompetenzen zu entwickeln, die für seinen Lebenserfolg und sein Lebensglück grundlegend wichtig sind.“
In seinem Buch „Die Droge Verwöhnung“ führt Jürg Frick dreiundzwanzig häufige Auswirkungen des Verwöhnverhaltens auf: Von gesteigerter Herrschsucht über eine verringerte Frustrationstoleranz bis hin zur Lebensuntüchtigkeit. Auswirkungen, die sich in allen Lebensbereichen bemerkbar machen: in Vorschule, Kindergarten, Schule, Ausbildungsstätten, Berufsleben, Familie, Freundschaft, Liebe, Freizeit, Gesundheit und Gesellschaft.
„Verwöhnte Kinder sind gewohnt, dass ihnen Steine aus dem Weg geräumt und fixfertige Lösungen angeboten werden“, sagt Jürg Frick. Dies habe zur Folge, dass die kindliche Eigenaktivität auf der Strecke bleibt. „Verwöhnten Kindern wird es deshalb rasch zu viel, zu aufwändig, zu mühsam und zu langweilig“.
Viele Verwöhnte sind vorschnell mit ihren eigenen Leistungen zufrieden. Sobald eine grössere Anstrengung von ihnen verlangt wird, geben sie auf oder spannen helfende Personen ein. Das führt auf Dauer zu Unzufriedenheit, zwischenmenschlichen Spannungen und nicht selten zu häufigem Stellenwechsel.
Laut Jürg Frück besitzen viele verwöhnte Menschen nur schwach ausgebildete kooperative Fähigkeiten. Sie seien sich gewohnt, zu bekommen und zu nehmen, aber kaum zu geben. Ihr mangelhaft ausgebildetes Einfühlungsvermögen ermöglicht ihnen nicht, die Gefühle, Bedürfnisse oder Nöte von anderen angemessen wahrzunehmen.
Viele Verwöhnte haben ein hohes Mass an Zuneigung von ihren Eltern bekommen. Doch das macht sie noch nicht fit für Freundschaft und Partnerschaft. „Für Letzteres muss man Liebe geben, ohne an sich selbst zu denken oder eine Gegenleistung einzufordern“, sagt Jürg Frick. „Auch müssen Freundschaften und Liebesbeziehungen gepflegt werden.“
Die hierfür nötigen Kompetenzen würden bei vielen verwöhnten Kindern zu wenig gefördert. Zum Beispiel Ausdauer, Einfühlungsvermögen und Hingabe. Das erhöhe die Gefahr, dass Verwöhnte im Verlauf des Lebens vereinsamen.
Laut Jürg Frick ist es dennoch wichtig, dass Eltern keine Schuldgefühle bekommen, wenn sie feststellen, dass sie ihr Kind verwöhnt haben: „Alle machen in der Erziehung Fehler. Wesentlich ist, dass wir aus unseren Fehlern lernen.“
Mit dem Verwöhnen eng zusammen hängt laut Jürg Frick, dass immer mehr Eltern Zukunftsangst hätten. Das führe zu einem übersteigerten Bedürfnis nach Sicherheit und zur Neigung, Kinder überzubehüten bzw. zu verwöhnen, zumal viele Eltern nur ein oder zwei Kinder hätten. Doch das Scheitern der Kinder kann nicht um jeden Preis verhindert werden. Wichtiger ist, dass Kinder lernen, das Scheitern angstfrei zu erleben und daraus zu lernen.“
Wenn die Eltern dem Kind darüber hinaus vorlebten und das Gefühl vermittelten, dass Einsatz etwas Tolles sei, würden Kinder Freude an der Anstrengung bekommen und damit ein Kompetenzgefühl entwickeln. Fazit? Kinder müssen die Möglichkeit haben, an Widerständen zu wachsen. Die Aufgabe der Eltern besteht nicht darin, sie vor den Schwierigkeiten des Lebens zu beschützen. Sondern darin, ihnen zu helfen, Schwierigkeiten aus eigener Kraft und Kreativität zu überwinden.
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Prof. Dr. phil. Jürg Frick ist Psychologe FSP und Dozent an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Er war viele Jahre als Lehrer auf verschiedenen Schulstufen tätig und führt Elternkurse zum Thema Verwöhnung durch. Hier kommen fünf Empfehlungen des Experten.
Jürg Frick: „Sie sollten zum Beispiel auf den Ton des Kindes achten. Der fordernde Ton verwöhnter Kinder zeigt sich in der Regel früh. Dennoch überhören nicht wenige Mütter den bestimmenden Ton des Kindes und springen gleich los, wenn es etwas wünscht. Das führt tendenziell zu einem Verlust der Achtung vor den Eltern.“
Jürg Frick: „Mutter oder Vater sollten ruhig und bestimmt zu dem Kind sagen: „Dein Ton gefällt mir nicht. Wenn Du etwas von mir willst, musst Du es anders sagen.“ Es kann auch sein, dass ein zu angepasstes Kind in der Ablösungsphase schnippisch wird. So oder so geht es darum, in der reifen Erwachsenenrolle zu bleiben, und dem Kind zu signalisieren, dass man nicht sein Diener oder persönlicher Wunscherfüller ist.“
Jürg Frick: „Mütter wie auch Väter sollten Kindern beibringen, Gefahren realistisch einzuschätzen. Gleichzeitig sollten sie ihnen ein angemessenes Zutrauen vermitteln, auch verbal. Realistisch bedeutet, unter Berücksichtigung des Alters und weiterer Faktoren. Nehmen wir an, eine Mutter steht mit ihrem 5-Jährigen vor einem Klettergerät. Dann kann Sie in ruhigem Ton zu ihm sagen: „Da solltest Du besonders gut aufpassen und vorsichtig sein. Dann kannst Du es schaffen!“
Jürg Frick: „Ja, denn es ist wichtig, dass Kinder und Jugendliche fähig sind, sich an einfachen Tätigkeiten zu freuen! Auch sollte das Erfüllen der Wünsche mit eigener Anstrengung verbunden sein. Dann bleiben die Wünsche der Kinder realitätsbezogen und werden kaum in den Himmel wachsen.“
Jürg Frick: „Im Alltag ist es häufig so, dass die natürlich vorhandene Hilfsbereitschaft kleiner Kinder abgewürgt wird. Da will ein Kind beispielsweise die Eier in den Kühlschrank räumen. Rasch ruft die Mutter: „Ich mach‘ das für Dich!“ Dabei könnte sie dem Kind beibringen, die Eier ganz vorsichtig einzuräumen. Das gäbe ihm ein Gefühl für die Zerbrechlichkeit von Eiern und das Vertrauen, dass man seine Hilfe braucht. Es ist auch kein Zufall, dass viele verwöhnte Kinder schlecht mit Scheren umgehen können. Aus solchen Situationen heraus entwickeln verwöhnte Kinder häufig massive Defizite in alltäglichen Dingen.“
Jürg Frick: Eltern sollten ihren Kindern von klein auf Ämter im Haushalt anvertrauen. Sie sollten die alltäglichen Fertigkeiten des Kindes fördern und ihnen beibringen, Verantwortung in einer Gemeinschaft zu übernehmen.“
Jürg Frick: „Damit verhält es sich so: Kinder, die bereits auf kleinste Anstrengungen unangemessen grosse positive Rückmeldungen erhalten, neigen als Jugendliche und Erwachsene dazu, zu schnell mit ihren Leistungen zufrieden zu geben. Wenn sie kein Lob erhalten, verstehen sie die Welt nicht mehr! Klagen und Schuldzuweisungen sind die häufigen Folgen. Deshalb ist es wichtig, dass Eltern eine gute Balance finden zwischen ausreichender Zuwendung und unangemessener Anerkennung.“
Interview: Petra Horat
BUCHTIPP
Jürg Frick: Die Droge Verwöhnung
Verlag Hans Huber 2018
256 Seiten
ISBN 978-3-456-85746-6
Erhältlich in jeder Buchhandlung oder online.
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Verwöhnen bedeutet nicht nur, einem Kind alle materiellen Wünsche zu erfüllen. Das Phänomen des Verwöhnens ist viel weiter zu begreifen. Der deutsche Sozialpädagoge Albert Wunsch hat das besonders anschaulich beschrieben: „Wer einem Menschen Lob, Geld, soziale Anerkennung oder andere Zuwendungen auf Dauer zukommen lässt, ohne dass der andere einen eigenen Beitrag leistet, der verwöhnt.“
Auf Kinder bezogen, sagt der Schweizer Psychologe und Verwöhn-Experte Prof. Dr. Jürg Frick: „Verwöhnt wird ein Kind nicht nur, indem man es für jede Gefälligkeit belohnt. Sondern auch indem man…
• … ein Kind unangemessen lobt.
• … ein Kind übertreiben bewundert.
• … sich den kindlichen Launen unterzieht.
• … ein Kind mit Zärtlichkeiten überhäuft.
• … wenig Anstrengung von einem Kind erwartet.
• … einem Kind ständig Frustrationserlebnisse erspart.
• … einem Kind Anforderungen und Schwierigkeiten aus dem Weg räumt.“