Die Zahl der computersüchtigen Kinder und Jugendlichen wächst. Doch was bedeutet eigentlich „süchtig“? Und wie können Eltern ihren computersüchtigen Kindern helfen? Hier erfahren Sie, was der deutsche Neurobiologe Gerald Hüther und der Schweizer Computersucht-Experte Franz Eidenbenz raten.
Die «World of Craft» ruft
Jeden Tag das Gleiche: Der 16-jährige Marc W. kommt nach Hause, geht straks in sein Zimmer und setzt sich vor den Computer. Ein Klick und der Bildschirm flimmert. Ein paar weitere Klicks und der Junge ist mitten drin in seinem Lieblingsspiel «World of WarCraft» («Welt des Kriegshandwerks»). Turnschuhe und Jacke sind durch die Luft geflogen. Den Begrüssungsruf der Mutter aus der Küche hat der Zürcher Schüler überhört. Genauso wie den Hinweis, das Essen stehe gleich auf dem Tisch.
Wo ist der Compi hin?
Selbstvergessen surft Marc durch die magische Welt der Gilden, Defias und Wächter. Wie fast jeden Abend, im Schnitt während 30 bis 35 Stunden die Woche. Heute dauert der Ausflug ins Internet allerdings etwas weniger lang. Als Marc von einer Pinkelpause in sein Zimmer zurückkehrt, ist der Computer weg. Die Mutter hat ihn beschlagnahmt. Es folgt ein heftiger Streit zwischen Mutter und Sohn, der damit endet, dass Mark wütend aus der Wohnung flieht.
Was heisst hier «süchtig»?
Der deutsche Neurobiologe und Hirnforscher Prof. Dr. Gerald Hüther definiert Computersucht so: «Süchtig, das bedeutet, dass die Kinder oder Jugendlichen selbst bei schönstem Sonnenschein ihr Zimmer nicht verlassen, wie gebannt vor dem Computer hocken, wenig oder widerwillig essen und kaum schlafen, bis tief in die Nächte hinein am Computer spielen und am nächsten Tag übermüdet und desinteressiert in der Schule sitzen.» In Zahlen heisst dies gemäss einer Studie der Humboldt-Universität Berlin: Ab 28 Stunden PC-Gebrauch pro Woche oder vier Stunden pro Tag gilt man als «gefährdet», ab 35 Wochenstunden oder fünf Stunden täglich als «süchtig».
Die 3-Kriterien-Regel
Der Zürcher Psychotherapeut Franz Eidenbenz arbeitet seit zwölf Jahren mit Online-Süchtigen. Er findet die zeitliche Richtlinie der Humboldt-Uni zu einfach gestrickt. «Es kommt nicht primär auf die Dauer der PC-Nutzung an», sagt der Experte für Verhaltenssüchte mit Spezialgebiet neue Medien. «Sinnvoller ist es, den Computerkonsum der Kinder nach drei wichtigen Kriterien zu beurteilen: Erstens, investieren die Jugendlichen mindestens gleich viel Zeit in computerlose Freizeitaktivitäten ausser Haus, die mit sozialem Kontakt verbunden sind – also zum Beispiel in Sport, Spiel oder Pfadi? Zweitens, kommen ihre Hausaufgaben nicht zu kurz, und stimmen die schulischen Leistungen? Drittens, erhalten die Jugendlichen genug Schlaf?» Seien diese Kriterien erfüllt, könne man nicht von einer Computersucht sprechen, sagt Franz Eidenbenz.
Was geschieht im Gehirn?
Viele Eltern machen sich Sorgen, dass das tägliche, stundenlange Spielen am Computer den Kindern schadet und ihr Denken nachteilig verändert. «Diese Sorge ist nicht ganz aus der Luft gegriffen, denn die Strukturierung des menschlichen Gehirns wird dadurch bestimmt, wozu und wie man das Gehirn benutzt», sagt Gerald Hüther. «Geschädigt wird das Gehirn von notorischen Online-Gamern nicht, doch es wird umgeformt. Es baut häufig benutzte neuronale Verbindungen zu ‹Autobahnen› aus, während andere Hirnbereiche unterentwickelt bleiben.» Als Folge davon hätten Computerkids also beispielsweise eine starke Auge-Hand-Koordination, während andere Fähigkeiten auf der Strecke blieben, zum Beispiel grob- und feinmotorische Fertigkeiten oder ein differenziertes sprachliches Ausdrucksvermögen.
Affektregulation bleibt auf der Strecke
Den Gebrauch von Computern verteufeln mag der Hirnforscher aber nicht: «Computer sind wunderbare Werkzeuge, mit denen man sinnvoll planen, organisieren, kreativ gestalten und auf weite Entfernungen kommunizieren kann.»
Das Problem liege woanders: «Computer werden von Kindern und Erwachsenen auch zur Affektregulation benutzt. Also als Krücken, um Affekte wie Wut, Langeweile oder Sehnsucht zu kompensieren.»
Mit der Zeit bekämen die Nutzer dann ein Gehirn, das die selbstständige Fähigkeit zur Affektregulation verloren habe.
Konsumieren statt kreativ gestalten
Für Gerald Hüther geht die Computersucht einher mit einer aussenorientierten Lebensweise, genau wie auch die Fernsehsucht: Der Konsum und Genuss von äusseren Stimuli wird wichtiger als die persönliche Anstrengung und kreative Eigenleistung. Dabei sind die Rezepte, die uns wirklich glücklich machen, tief in unseren Gehirnen verankert. Gerald Hüther nennt das Beispiel eines kleinen Kindes, das sich mit Mühe und Not an einem Stuhlbein hochgezogen hat und nun zum ersten Mal in seinem Leben selbstständig steht: «Sein Gesicht strahlt vor Freude, es hat ein wunderbares Kohärenzgefühl.»
Dieses Glück unterscheide sich grundlegend vom Glücksgefühl eines Jungen, der soeben seine Mutter im Supermarkt überredet habe, ihm ein Überraschungsei zu kaufen. Viele «Games» am Computer seien blosse Überraschungseier.
Mission im Altersheim
Es geht auch anders, wie kreative Erwachsene zeigen. Ein Vater kurierte die Computersucht seines 15-jährigen Sohnes, indem er eine Software-Firma für diesen gründete und den Jungen ins Altersheim schickte. Dort zeigte er den Senioren, wie man via Facebook und E-Mail mit den Angehörigen in Kontakt bleibt. Mittlerweile gefällt das dem Jungen viel besser als Ballerspiele am PC. Obendrein verdient er noch ein wenig Geld damit.
Rezepte gegen Computersucht
Das Beispiel erinnert an andere Projekte aus der Kinderpädagogik. Etwa daran, dass chronische «Fernsehkinder» das Interesse an der Flimmerkiste verlieren, sobald ihnen Aufgaben anvertraut werden, die ihre Sehnsucht nach Selbständigkeit, Kompetenz und Verbundenheit befriedigen. Zum Beispiel die Pflege eines Kleintierzoos zusammen mit anderen Kindern.
Es erinnert weiter an Projekte mit Jugendlichen, die nicht mehr vor der Glotze sitzen mögen, weil man ihnen die Gelegenheit bietet, selbst einen Film zu drehen. «Solche Erfahrungen können Kinder vor allem im gemeinsamen Tun machen», weiss Gerald Hüther, «wenn sie zusammen mit anderen wichtige Aufgaben erfüllen oder sich um andere Menschen kümmern.»
Erzähl‘ doch mal
Zum Finden sinnvoller Beschäftigungen gehört, dass Eltern und Kinder miteinander reden. «Es ist kein Zufall, dass sich Eltern von computersüchtigen Kindern in der Regel kaum dafür interessieren, was die Jungen genau machen», hat der Psychotherapeut Franz Eidenbenz in seiner Praxis beobachtet. Dabei sei es wichtig, sagt der Experte für Verhaltenssüchte, dass sich Eltern für den Inhalt der kindlichen Computerspiele interessieren. Dass sie sich beispielsweise fragen: Welche Figur, welchen «Avatar» spielt mein Sohn in der virtuellen Welt? Welche Inhalte hat das Spiel, das meine Tochter so fasziniert?
Solche Gespräche könnten das Verständnis für die Bedürfnisse und Sehnsüchte der Kinder vertiefen. Nicht selten käme dabei auch Überraschendes zum Vorschein: Etwa dass ein Kind in die virtuelle Welt abtauche, weil es dort Freunde finde, die ihm in der Schule fehlten, oder weil im Internet niemand da sei, der dauernd herumnörgele.
Das Leben ist spannend!
Laut Gerald Hüther hat jedes «computersüchtige Gehirn» seine eigene Geschichte. Trotzdem zeige die Erfahrung, dass sich die meisten ehemaligen Computersüchtigen auf ähnliche Weise von ihrer Sucht befreit hätten: «Irgendwann ist etwas passiert, was ihr Vertrauen, ihren Mut, ihre Lust am realen Leben, am Entdecken und Gestalten nachhaltig gestärkt hat.»Die Initialzündung sei meist durch eine Begegnung mit anderen Menschen, eine neue Herausforderung oder eine selbstständig erbrachte Leistung entstanden.
So erging es auch dem Schüler Marc W.. Kurz nach der elterlichen Beschlagnahmung seines Computers begann er eine Lehre als Schreiner. Die praktische Tätigkeit, die neuen Kollegen und das Lob des Lehrmeisters beflügeln ihn so sehr, dass sich die Computersucht von alleine auflöste.
Erfolgserlebnisse
«Moderne Eltern neigen dazu, ihre Kinder zu verwöhnen. Sie schleppen sie von Glücksmoment zu Glücksmoment, die Kinder wachsen auf wie in Watte verpackt», sagt der Hirnforscher Gerald Hüther. «Dabei ist es für Kinder in erster Linie wichtig, dass sie Fähigkeiten und Fertigkeiten erlernen, die ihnen Mut und Selbstvertrauen geben und ihnen helfen, an ihre Ziele zu kommen.»
Mit anderen Worten: Kinder und Jugendliche brauchen Gelegenheiten zum Gestalten und Entdecken der Welt, sie sollen Abenteuer bestehen und möglichst unterschiedliche Situationen erleben dürfen.
Freiraum schaffen, Grenzen setzen
Die moderne Kleinfamilie bietet Kindern in vielerlei Hinsicht weniger Freiräume als die frühere Grossfamilie. Das Problem dabei: «Wenn der Freiraum, Sachen auszuprobieren schwindet, weil alles kontrolliert ist, suchen Jugendliche eher die Freiheit virtueller Räume», sagt Franz Eidenbenz. Trotzdem sei es wichtig, klare Regeln für den Computerkonsum festzulegen und diese mit Hilfe sinnvoller Anerkennungen und Bestrafungen durchzusetzen.
Ein Beispiel: «Wenn es ein Jugendlicher schafft, seinen Computer unter der Woche selbstständig immer zur vereinbarten Zeit auszuschalten, kann man ihn mit einem freien Abend ausser Haus belohnen oder mit ihm etwas unternehmen, das er sich wünscht. Schafft er es nicht, kann man ihm beispielsweise weniger an die Handyrechnung zahlen.»
Strafen sollten konstruktiv sein
Die gewählten Anerkennungen und Bestrafungen müssten aber «konstruktiv» sein. So sei es beispielsweise keine gute Idee, einem Kind den Sportclub zu verbieten, weil es am Vorabend zu lange am Computer gespielt habe. Genauso kontraproduktiv seien Regeln, denen es an Verständnis für die Jungen fehle: «Wenn der Jugendliche in einem Online-Spiel zusammen mit einer Gilde eine gemeinsame Aufgabe löst, die zwei Stunden dauert, ist es keine gute Idee, den Computer nach einer Stunde auszuschalten.»
Vorbilder
«Kinder und Jugendliche brauchen Vorbilder, an denen sie sich orientieren und denen sie nacheifern können, weil sie etwas ausstrahlen, das sie selber noch nicht entwickelt haben», sagt Gerald Hüther. Dazu gehöre, dass Eltern in ihren Kindern die Überzeugung nähren, dass man Probleme fortlaufend lösen und daran wachsen kann. Dass es sich lohne, sich anzustrengen und möglichst viele Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln.
In der Tat sei die Fähigkeit, sich im Leben zurechtzufinden und sich nicht von Misserfolgen entmutigen zu lassen, nicht angeboren oder zufällig. «Sie wird durch Lernprozesse herausgeformt, die auf Erfahrung beruhen. Mit jedem gelösten Problem wächst das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und mit ihm der Mut, vor neuen, grösseren Problemen nicht zu kapitulieren», sagt Gerald Hüther.
Vier Dinge sind wichtig
Experten haben herausgefunden, dass computersüchtige Kinder und Jugendliche in erster Linie vier Dinge benötigen: Erfolgserlebnisse, Vorbilder, Freiraum und Grenzen!
Erfolgserlebnisse entstehen, wenn Kinder und Jugendliche Fähigkeiten entwickeln können, die Mut und Selbstvertrauen schenken und beim Erreichen von Zielen helfen. Ausserdem wenn sie Abenteuer bestehen und die Welt gestalten dürfen.
Vorbilder sind Erwachsene, die in ihren Kindern die Fähigkeit nähren, Probleme zu lösen und daran zu wachsen. Erwachsene, die ihren Kindern mitgeben, dass es sich lohnt, sich anzustrengen und im Leben viele Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erlernen.
Freiraum und Grenzen
Die modernen Kleinfamilie bietet oft weniger Freiraum als die früheren Grossfamilien. Wo alles kontrolliert wird, suchen Jungendliche eher die Freiheit der virtuellen Welt. Kinder und Jugendliche brauchen Freiraum zum Ausprobieren. Laut Experten ebenso wichtig: Regeln für den Computerkonsum, die mit Hilfe von Anerkennung und konstruktiver Strafe durchgesetzt werden.
Selbständig, kompetent, verbunden
Der pädagogische Alltag zeigt: Fernseh- oder Computersucht lösen sich auf, wenn Kinder und Jugendliche ihre Sehnsucht nach Selbständigkeit, Kompetenz und Verbundenheit befriedigen können.
10 Zeichen für Computer-Sucht
> Ein unwiderstehlicher Zwang zum Einloggen
> Entzugserscheinungen wie Unruhe, Nervosität oder Reizbarkeit, wenn das Chatten oder Gamen verhindert wird
> Mehrmalige vergebliche Versuche der Einschränkung
> Nachlassende Schul- und Arbeitsleistung
> Vernachlässigung von grundlegenden Aktivitäten wie Essen und Schlafen
> Vernachlässigung von früher geschätzten Hobbies
> Vernachlässigung von früher geschätzten Freundschaften
> Die soziale Umwelt (Schule, Ausbildung, Familie) wird zunehmend als Last empfunden.
Jedes zehnte Kind gefährdet
Laut Statistik sind süchtige Online-Spieler in der Schweiz eher selten. Bei den Jungs etwa drei Prozent, bei den Mädchen unter ein Prozent. Für Deutschland gelten ähnliche Zahlen. Die Zahl der Computersüchtigen wächst allerdings. Als «gefährdet» werden über 10 Prozent der Kinder und Jugendlichen eingestuft. Auch die Fälle von Jugendlichen, die wegen «Gamesucht» oder Internetsucht in psychiatrische Dienste überwiesen werden, nehmen zu.