Bio-Lebensmittel statt Pestizide für alle? Ein weltfremder Traum? Oder doch eine realistische Perspektive?
Mit grosser Wahrscheinlichkeit letzteres. Führende Agrarforscher kennen das Eintrittsticket in eine Bio-Welt, die alle satt macht.
Frühling im Bieler Seeland. Ernst Maurer springt sofort ein, als ihn der Nachbar um Hilfe bittet: Zusammen versprühen die beiden Landwirte ein Präparat gegen Blattläuse auf den Gemüsefeldern.
Wenige Stunden später fühlt sich Ernst Maurer plötzlich unwohl: Durchfall, Erbrechen, Atemnot, Kreislaufkollaps. Mit der Ambulanz wird Maurer ans Berner Inselspital gebracht. Diagnose: Eine Überdosierung des Nervengifts Phosphorsäureester, ein Wirkstoff aus dem Blattläuse-Pestizid. In letzter Minute retten die Ärzte Ernst Maurers Leben.
Ernst Maurer ist nach dem Pestizid-Vorfall Biobauer geworden. Sein Hof im Bernischen Diessbach wird inzwischen von Sohn David und dessen Frau Lucy geführt. Auch sie bringen auf den 18 Hektar Gemüsekulturen keine synthetischen Pestizide aus; weder in Form von Herbiziden (gegen Unkraut), Insektiziden (gegen Schadinsekten), noch Fungiziden (gegen Pilze) oder Akariziden (gegen Milben).
Und das obwohl auch biologisch kultivierte Flächen ein Schlaraffenland für Schädlinge sind. Wo sonst gibt es so viel Essen „auf einem Haufen“ – beispielsweise für Blattläuse, Maiszünsler, Rapsglanzkäfer, Thripsen, Weiße Fliegen und Kartoffelkäfer? Zusätzlich werden die Kulturpflanzen durch Beikraut bedrängt und müssen vielfältigen Krankheiten trotzen.
Wie schaffen es 35’000 Biobetriebe in der Schweiz und in Deutschland, ohne chemisch-synthetische Pestizide erfolgreich zu wirtschaften?
Möglich ist das nur dank einem wirkungsvollen alternativen Pflanzenschutz. Auch Biobauern verwenden „Pestizide“ – aber nur Pflanzenpräparate, bioidentische Substanzen, lebende Nützlinge und natürliche, anorganische Stoffe wie zum Beispiel Tonerden, Schwefel und Kupfer.
Für einen effizienten Pflanzenschutz entscheidend wichtig sind zudem die Standortwahl, größere Pflanzabstände, kluge Fruchtfolgen, robuste Pflanzensorten, hochwertiger Kompost und viel Handarbeit.
Zum Vergleich: Ein konventioneller Landwirt spritzt das Unkraut auf einem Hektar Rüebli-Kultur in rund 60 Minuten mit einem synthetischen Herbizid weg. Um die gleiche Fläche vom Unkraut zu befreien, jätet und hackt ein Biobauer gegen 200 Stunden lang. Also fast 200 mal länger als ein konventioneller Landwirt. Trotzdem schaffen es Biobauern, ihre Lebensmittel zu konsumentenfreundlichen Preisen anzubieten!
Bereits zu Beginn der Pestizid-Ära war aufmerksamen Beobachtern klar, dass chemisch-synthetische Pestizide unerwünschte Nebenwirkungen haben.
Jahrzehnte später stapeln sich die Risikoberichte: Die Agrochemikalien stören die empfindlichen Ökosysteme. Sie können Mensch, Tier und Pflanze Schaden zufügen.
So greifen beispielsweise viele chemisch-synthetische Pestizide das Nervensystem von Insekten an. Das ist auch für den Menschen riskant. In Frankreich sind Nervenschäden durch Pestizide so gut dokumentiert, dass Parkinson seit 2012 als pestizidbedingte „Berufskrankheit“ anerkannt wird. Studien zeigen, dass das Risiko, an Parkinson zu erkranken, in ländlichen Gebieten mit Pestizideinsatz höher ist. Am höchsten ist das Risiko in Weinanbaugebieten.
Jährlich kommt es weltweit zu rund 25 Millionen akuten Vergiftungen durch chemisch-synthetische Pestizide. 220’000 davon enden tödlich. Einige dieser Hochrisiko-Pestizide werden auch in der Schweiz hergestellt. Und von dort in Entwicklungsländer exportiert.
Es braucht nicht einmal eine akute Vergiftung zu sein. Auch gering dosierte, langfristige Kontakte mit chemisch-synthetischen Pestiziden können der Gesundheit schaden. Etwa aufgrund von Hormonwirkungen.
Hormonaktive Substanzen können nicht nur neurologische Entwicklungsstörungen fördern. Zum Beispiel das Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS). Sie können auch die Zeugungskraft und weibliche Fruchtbarkeit beeinträchtigen. Ausserdem können sie Übergewicht, Diabetes und hormonabhängige Krebsarten wie Prostata-, Hoden- und Brustkrebs begünstigen.
Für Ungeborene und Kinder sind die hormonaktiven Substanzen besonders gefährlich. Zahlreiche Studien belegen, dass Kinder tendenziell einen tieferen IQ haben, wenn sie Pestiziden und anderen hormonaktiven Substanzen ausgesetzt waren. Die Chemikalien können das fetale Gehirn im Mutterbauch schädigen. Siehe dazu ein Interview mit der Hormonforschering Barbara Demeneix, Professorin am Forschungszentrum CNRS in Paris.
Wissenschaftler haben in Tierversuchen nachgewiesen, dass chemisch-synthetische Pestizide die genetische Erbsubstanz DNA verändern können. Was bedeutet das für den Alltag?
Nehmen wir an, Ihre Großmutter oder Ihr Großvater waren dem Pestizid Methoxychlor ausgesetzt. Dieses wurde während über fünfzig Jahren bis 2002 großflächig in ganz Europa eingesetzt.
Nehmen wir weiter an, dass Ihre Großeltern eine pestizidbedingte Anfälligkeit gegenüber einer oder mehreren Krankheiten eingefangen haben. Laut Studien kann der Schaden, der in den großelterlichen Genen festgeschrieben ist, zu Ihren Eltern, zu Ihnen und zu Ihren Kinder „weiterwandern“. Ohne dass Sie, Ihre Eltern oder Ihre Kinder je mit dem Pestizid in Berührung gekommen sind.
Agrochemische Unternehmen beteuern, moderne Pestizide würden nur gegen „bestimmte Schädlingsgruppen“ wirken. Stimmt das?
Werfen wir einen Blick auf den neuen Insektizid-Wirkstoff Spiropidion (2020). Es wird vom Hersteller als besonders fortschrittlich, da schädlingsspezifisch und „bienenfreundlich“ angepriesen.
Der Faktencheck bei der wissenschaftlichen Datenbank PubChem fördert folgende Erkenntnis zu Tage: Spiropidion ist hochtoxisch für Wasserlebewesen. Wird es inhaltiert, kann es auch dem Menschen schaden (siehe Punkt „8.1.3UN GHS Classification“).
Wenn synthetische Pestizide wenigstens selten gespritzt würden! Doch das ist nicht der Fall.
Ein Beispiel aus dem landwirtschaftlichen Alltag: Kernobst wird bis 20mal jährlich gespritzt, Reben bis 10mal, Kartoffeln bis 9mal, Winterweizen im Schnitt 4mal pro Jahr.
Somit ist es ziemlich wahrscheinlich, dass Sie mit konventionell produzierten Nahrungsmitteln regelmässig Pestizidrückstände essen. Das bestätigen auch Berichte der Lebensmittelkontrolleure. Ein Beispiel: Bei Äpfeln aus konventionellem Anbau hat das Schweizer Bundesamt für Landwirtschaft in 9 von 12 Proben mindestens ein Pestizid gefunden. Die gute Nachricht: Äpfel aus Bioanbau waren ausnahmslos frei von Pestizidspuren.
Pestizid-Rückstände bei Lebensmitteln aus Schweizer Anbau liegen meist unter dem RHG-Wert, also der maximal zulässigen Rückstandsmenge. Wichtig zu wissen ist jedoch: Auch bei winzigen Mengen an Giftstoffen kann man nicht einfach ausschliessen, dass diese unschädlich sind. So zeigen zum Beispiel zahlreiche Studien, dass hormonaktive Chemikalien bereits in sehr tiefen Dosen wirken. Und dass ihre Wirkung durch chemische Begleitstoffe verstärkt wird. Solche Stoffe werden den Pestiziden beigegeben, um die Wirkung des Gifts zu vervielfachen.
Dabei ginge es auch anders. Denken wir beispielsweise an Hans Rudolf Herren: Der Schweizer Agronom sollte in den 1980er Jahren eine Schmierlaus bekämpfen, die Afrikas Maniokplantagen kahl fraß. Herren war klar, dass jeder Schädling einen ebenbürtigen Feind in der Natur hat. Er machte sich auf die Suche nach diesem Feind und fand ihn in Gestalt einer Schlupfwespe.
Mit Hilfe von Flugzeugen ließ der Wissenschaftler die Schlupfwespe in großer Zahl über den Maniokplantagen ausbringen. Das Ergebnis? Die Schmierlaus-Populationen regulierten sich „von alleine“ auf ein natürliches Maß herunter.
Hans Rudolf Herren bewahrte damit Hunderte Millionen Menschen vor einer Hungerkatastrophe. Er wurde für diesen Geniestreich mit dem Welternährungspreis geehrt. Nach Gründung der Stiftung „biovision“ erhielt der Forscher zusätzlich den Alternativen Nobelpreis (Right Livelyhood Award).
Auch in der Schweiz und Deutschland setzen Bio-Bauern Nützlinge gegen landwirtschaftliche Schädlinge ein. Sie arbeiten zum Beispiel mit Raubmilben und Marienkäfern, mit Nematoden, Pilzen und Bakterien. Weiter bringen sie Pflanzen(extrakte) aus, die Schädlinge fernhalten und die Widerstandskraft der Kulturpflanzen erhöhen. Und sie schützen die Nahrungspflanzen mit anorganischen Substanzen wie Tonerden, Kieselgur, Schwefel, Schmierseife und Kupfer.
Ein Wegfall der synthetischen Pestizide, wie sie die beiden Volksinitiativen „Schweiz ohne synthetische Pestizide“ und „Trinkwasser-Initiative“ fordern, würde die Schweiz zu einer konsequenten Ökologisierung der Landwirtschaft zwingen. Dazu muss man wissen, dass bis dato jährlich rund 3,5 Milliarden Steuerfranken in die intensive Landwirtschaft fliessen.
Bei einem ökologischen Kurswechsel würden erstmals grosse Forschungsgelder für die Biolandwirtschaft frei. Und damit auch für die Bereitstellung unschädlicher, alternativer Pflanzenschutzmittel. Gelder, die bis dato in „Schadensbegrenzung“ investiert werden. Vorab für das millionenschwere Monitoring der Nebenwirkungen von Agrochemikalien.
Fallen die chemisch-synthetischen Pestizide weg, würden unser Boden, das Trinkwasser und die Ökosysteme ein grosses Stück gesünder. Die ganze Landwirtschaft würde schrittweise ökologisiert. Denn sie pflegt neben den Pestiziden weitere destruktive Praktiken, die den Boden und das Trinkwasser belasten. Zum durch den Einsatz von schweren Agrarmaschinen und erdölbasiertem Kunstdünger.
Ein Verdienst der intensiven Landwirtschaft besteht darin, dass wir nie zuvor so wenig Geld unseres Einkommens für Nahrungsmittel ausgegeben haben. Doch die Preise für Lebensmittel sind nur deshalb tief, weil sie die Umwelt- und Gesundheitsschäden ausklammern, die sie verursachen.
Deshalb fallen die Kosten für die intensive Landwirtschaft doppelt auf den Steuerzahler zurück: Einerseits durch die milliardenschweren Sanierungen der Umweltschäden, welche die intensive Landwirtschaft verursacht. Die „Renaturierung“ von schadstoffbelasteten Böden und verseuchtem Trinkwasser verschlingt bekanntlich Unsummen.
Der zweite Bumerang sind höhere Gesundheitskosten. Wir werden die durch Pestizide verursachten Gesundheitschäden mit unseren Krankenkassenprämien bezahlen müssen.
Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der noch nichts ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit gedrungen ist: Pestizide der konventionellen Landwirtschaft verändern Nahrungspflanzen so, dass diese weniger sekundäre Pflanzenstoffe hervorbringen. Genau diese Schutzstoffe aber sind unerlässlich, um langfristig gesund zu bleiben.
Ohne landwirtschaftliche Kurskorrektur gibt es keinen Ausweg aus der Sackgasse.
Dass „Bio für alle“ eine realistische Perspektive, belegen wissenschaftliche Studien. Das international führende Forschungsinstitut für Biologischen Landbau FiBL in Frick hat berechnet, dass es möglich wäre, die ganze Weltbevölkerung „Bio“ zu ernähren. Alle satt, ohne chemisch-synthetische Pestizide.
Die Forscher haben mehrere Szenarien für die Ernährung der Weltbevölkerung im Jahr 2050 modelliert. Mit 10 Milliarden Menschen. Das heisst, mit rund 2 Milliarden mehr als derzeit auf der Erde leben.
Das Eintrittsticket in eine Biowelt, die alle satt macht, sieht laut den Forschern so aus:
– Wir müssen den Foodwaste drastisch reduzieren.
Grund: Viel zu viele essbare Lebensmittel kommen nie auf den Tisch. So landen beispielsweise im Müll von Herr und Frau Schweizer jährlich essbare Lebensmittel im Wert von 620 Franken (Foodwaste.ch). In den umliegenden Ländern sieht es ähnlich aus.
– Wir müssen den Fleischkonsum halbieren.
Grund: In der Schweiz wie anderswo gilt fressen Rindvieh, Schweine und Geflügel wertvolles Getreide, Mais und Soja in Mengen, die weltweit Hunderte Millionen Menschen ernähren könnten.
Zur gleichen Erkenntnis sind 2020 Forscher aus Potsdam gelangt: Eine nachhaltige, ökologisierte Landwirtschaft könnte bereits heute 10 Milliarden Menschen ernähren. Es gebe nicht „zu wenig Essen“ auf der Welt, sagen die Potsdamer Wissenschaftler. „Das Problem sind unsere Ernährungsgewohnheiten und eine fehlgesteuerte Ernährungspolitik“.
Professor Dieter Gerten, Leiter der Potsdamer Studie, bringt das Problem so auf den Punkt: „Derzeit geschieht fast die Hälfte der weltweiten Nahrungsmittelproduktion auf Kosten der planetaren Belastungsgrenzen der Erde. Wir widmen zu viel Land der Tierhaltung, düngen zu stark und bewässern übermäßig.“
Deshalb müssen wir überdenken, wie wir unsere Lebensmittel produzieren. Die gute Nachricht sei, so Dieter Gerten, dass es möglich wäre, „ausreichend Nahrung für bis zu 10 Milliarden Menschen bereitzustellen.“
Den Foodwaste abbauen und weniger Fleisch essen? Das klingt machbar. Und wäre gesünder. Schon deswegen, weil die Umstellung zu einem Mehrkonsum von Gemüse führen dürfte.
Herr und Frau Schweizer verzehren laut Statistik 120 bis 130 Gramm Gemüse und Früchte pro Tag. Das ist nicht einmal ein Drittel so viel wie Ernährungsmediziner empfehlen. Mindestens 400 Gramm pro Tag wären nötig, um die körpereigenen Reparatur- und Schutzsysteme ausreichend mit Antioxidantien, Vitalstoffen, Ballaststoffen und pflanzlichen Enzymen zu versorgen.
Mehr Lebensqualität, eine intaktere Umwelt, gesundheitliche Vorteile. Eine ökologisierte Landwirtschaft bringt zahlreiche Vorteile.
Doch wäre ein „Bioland Schweiz“ auch preislich konkurrenzfähig?
Führende Agrarwissenschaftler haben eine Antwort auf diese Frage. Hans Rudolf Herren zum Beispiel sagt dazu: „Wir können ohne synthetische Pestizide genügend Nahrung in guter Qualität und zu bezahlbaren Preisen produzieren. Voraussetzung dafür ist, dass die staatlichen Subventionen den Bauern den Übergang vom konventionellen zum biologischen Landbau ermöglichen.“
Im Klartext: Die Bäuerinnen und Bauern müssen bei der Umstellung auf Biolandwirtschaft finanziell und fachlich unterstützt werden. Behörden und Politik können ihnen ermöglichen, von der industriekontrollierten Landwirtschaft wegzukommen. Und damit auch von der totalen Abhängigkeit gegenüber der Agrarindustrie in puncto Saatgut, Herbizide, Pestizide und Kunstdünger.
Ein weiterer Punkt von Bedeutung: Viele Landwirte sind hoch verschuldet. Die intensive Landwirtschaft zwingt sie zu enorm kostspieligen Investitionen. Wie beispielsweise grosse Hightech-Landmaschinen.
Dazu sagt Hans Rudolf Herren: „Vielen Landwirten bereitet es Bauchschmerzen, wenn sie sehen, wie abhängig sie von der Industrie und den Banken geworden sind. “
Beitrag letztmals aktualisiert: 26.7.2021
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Vertiefende Infos:
Hans Ulrich Herren: So ernähren wir die Welt, rüffler@rub Verlag 2016, 152 Seiten, ISBN 978-3-906304-05-2
Urs Niggli: Alle satt? Ernährung sichern für 10 Milliarden Menschen, Verlag Residenzverlag 2021, 160 Seiten, ISBN 978-3-7017-3419-1
Rachel Carson: Der stumme Frühling. Beck Paperback 2019, 443 Seiten, ISBN 978-3-406-73.
Die US-amerikanische Biologin Carson schildert in ihrem Wissenschafts-Bestseller die Auswirkungen von DDT und synthetischen Pestiziden auf Mensch, Tier und Umwelt.
Mehr Informationen zu Rachel Carson in der linken Spalte auf dieser Seite.
Insektenatlas 2020 (gratis Download). Daten und Fakten über Nütz- und Schädlinge in der Landwirtschaft. Heinrich Böll Stiftung.
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Biovision, Stiftung für ökologische Entwicklung, Heinrichstr. 147, 8005 Zürich, www.biovision.ch. Die durch Hans Rudolf Herren gegründete Organisation mit Hauptsitz in Zürich setzt sich seit 1998 für die Verbreitung und Anwendung ökologischer Methoden in der Landwirtschaft ein.
– Forschungsinstitut für biologischen Landbau FiBL, www.fibl.org
– www.pik-potsdam.de:
„Die Welt zu ernähren, ohne den Planeten zu schädigen, ist möglich.“ (20.1.2020)
„Unterernährt, übergewichtig, vergeudet: Neue Studie zeigt Folgen der Umstellung globaler Ernährungsgewohnheiten über Jahrzehnte.“ (18.11.2020)
– Initiative für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide (2021)
– Initiative für sauberes Trinkwasser (2021)
– Erkenntnisse des 62 Millionen teuren Berner Pflanzenschutzprojekts (2020).
Beitrag letztmals aktualisiert am 6.5.21
Nobelpreis für ein “Elixier des Todes”
Erinnern Sie sich an DDT alias Dichlordiphenyltrichloretha? Das Pestizid wurde seit den 1940er Jahren während Jahrzehnten als „Wundermittel“ gegen Schadinsekten eingesetzt. Es brachte dem Schweizer Chemiker Paul Hermann Müller 1948 den Nobelpreis ein.
Mitte der 1950er Jahre enthüllte die US-amerikanische Biologin Rachel Carson in ihrem Buch Silent Spring („Der stumme Frühling“) die Nebenwirkungen chemisch-synthetischer Pestizide.
Carsons Buch schlug ein wie eine Bombe. Eine breite Öffentlichkeit erfuhr, wie gefährlich Pestizide für Mensch, Tier und Umwelt sind.
Die US-Regierung setzte eine Untersuchungskommission ein. Sie sollte die Auswirkungen von chemisch-synthetischen Pestiziden unter die Lupe nehmen.
Sogleich reichten agrochemische Unternehmen Klage gegen Rachel Carson ein (s. Foto von Edwin Gray, oben).
Doch die Anwälte konnten der Journalistin nichts anhängen. Sie hatte gewissenhaft recherchiert und minutiös Beweise gesammelt.
Anfang der 1970er Jahre verschwand DDT vom Markt. Rachel Carson wird deshalb auch als „Mutter der modernen Umweltbewegung“ bezeichnet.
Hier geht es zu einem DOK über Rachel Carson und ihren Bestseller Silent Spring.
Unter dem Titel „Der stumme Frühling“ ist Carsons Buch bis heute auch in deutscher Ausgabe erhältlich.
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Pestizidfreie Vorbilder im Ausland
Etliche Länder sind der Schweiz in puncto „bio und pestizidfrei“ weit voraus. Zum Beispiel Österreich (Foto). Unser Nachbarsland produziert bereits auf 25 Prozent der landwirtschaftlichen Gesamtfläche biologisch bzw. pestizidfrei (rund 10 Prozent mehr als die Schweiz). Im Bundesland Salzburg sind bereits 50 Prozent erreicht.
Dänemark hat den Einsatz von synthetischen Pestiziden seit Einführung einer Lenkungsabgabe um 40 Prozent gesenkt.
Sikkim, der kleine Bundesstaat im Norden Indiens (Foto oben), baut seit 2016 ausschließlich Bio-Lebensmittel an. Die bergreiche Topologie Sikkims ähnelt derjenigen der Schweiz.
International preisgekrönter Wein – pestizidfrei angebaut
Roland und Karin Lenz beweisen im Thurgauischen Uesslingen, dass es möglich ist, pestizidfrei Wein anzubauen, der internationale Preise gewinnt.
Statt auf Pestizide setzen die beiden auf robuste Rebsorten und viel Natur. Alleine in den letzten 10 Jahren haben die beiden ihre 21 Hektar Weinberge und Biodiversitätsflächen mit 15 weiteren Baum- und 25 Sträucherarten bepflanzt. Die Pflanzen bieten zahlreichen Nützlingen Lebensraum und Nahrung, was wiederum den Weinreben zugute kommt.
Behördliche Massnahmen bringen zu wenig
Die Auswertung des 62 Millionen Franken teuren Berner Pflanzenschutzprojekts zeigt, dass die behördlichen Massnahmen zur Senkung des Pestizidgehalts im Wasser viel zu wenig bringen. So sind im Chrümmlisbach, einem der beiden überwachten Bäche, nach vier Jahren praktisch alle wichtigen Messparameter unverändert hoch. Die Experten fanden 2020 immer noch 53 verschiedene Pestizide im Bach. Das ist genau eines weniger als zwei Jahre zuvor.
Die Schweiz kann 100 Prozent ihres Bedarfs an Fleisch und Milchprodukten decken. Beim Gemüse dagegen schneidet sie kläglich ab: Das Land deckt nur 40 Prozent seines Bedarfs, der Rest wird importiert.
Der hohe Fleischkonsum ist schädlich für die Umwelt, das Tierwohl und die Gesundheit. Führende Agrarforscher raten deshalb zu einer Steigerung der Produktion pflanzlicher Lebensmittel.
Zwölfmal mehr Nützlinge als Schädlinge
In der Natur kommen auf ein Schadinsekt sieben bis zwölf Insekten, die für den Menschen und seine Kulturpflanzen hilfreich und nützlich sind (siehe Insektenatlas). Den Schadinsekten steht also ein zahlenmäßig weitaus größeres „Heer“ nützlicher Insekten gegenüber. Ein Grund, warum Biobauern großen Wert darauf legen, Nützlinge zu mehren statt durch Einsatz von Pestizden zu töten.
Auch Biobauern verwenden Pestizide, aber ausschliesslich natürliche: Lebendige Nützlinge und Mikroorganismen, anorganische Substanzen (Kaolin, Tonerden usw.) sowie Pflanzen. Beispielsweise Schachtelhalm (Equisetum arvense, Foto). Viele pflanzliche Mittel entfalten zugleich eine stärkende und schützende Wirkung.
Hinzu kommen einige naturidentische Substanzen. Letztere betreffen in erster Linie die Pheromone. Diese Insekten-Lockstoffe sind deshalb naturidentisch bzw. im Labor hergestellt, weil es weder ökonomisch machbar noch ethisch sinnvoll wäre, Hunderttausende von Insekten zu töten, um an deren Lockstoffe zu gelangen.
Kupfer als Pestizid
Der Biolandbau wird mitunter für die Verwendung von Kupfer als Pflanzenschutzmittel kritisiert. Kupfer ist ein hoch wirksames Mittel gegen ein breites Spektrum von Pilzerkrankungen und wird seit rund 150 Jahren in der Landwirtschaft eingesetzt.
Ist Kupfer gefährlich?
Wichtig zu wissen: Kupfer ist für Mensch und Tier ein essentielles Spurenelement. Zu hohe Mengen werden beim gesunden Erwachsenen über die Galle ausgeschieden. Zu hohe Mengen kommen selten vor, sind aber prinzipiell möglich. Etwa bei Weinbauern, die mit Kupfervitriol arbeiten.
Was spricht gegen Kupfer?
Der größte Nachteil von Kupfer besteht darin, dass er sich im Boden anreichert und möglicherweise in hohen Konzentrationen bestimmte Bodenlebewesen schädigt, vorab Weichtiere wie Regenwürmer. Die diesbezüglichen Studienergebnisse sind allerdings nicht einheitlich.
Gibt es einen Ersatz für Kupfer?
Trotzdem wurden die zugelassenen Höchstmengen von Kupfer in der Landwirtschaft in den vergangenen 50 Jahren drastisch reduziert: Von 50 kg pro Hektar in den 1970er Jahren auf mittlerweile 6 kg pro Hektar. Für Biobauern gelten noch niedrigere Mengen, Demeter-Bauern verwenden teilweise gar kein Kupfer – etwa im Kartoffelanbau.
Die Suche nach einem Kupferersatz für den Pflanzenschutz läuft seit über 20 Jahren. Bis anhin war es noch nicht möglich, ein Pflanzenschutzmittel zu entwickeln, dass Kupfer ebenbürtig ersetzen kann.
Viel Arbeit
Das Wegspritzen von Unkraut auf einem Hektar Rüeblikultur ist mit einem synthetischen Pestizid in rund 60 Minuten erledigt. Im Biolandbau dauert es 200 Stunden, um dieselbe Fläche von Hand und mit Hilfe des Hackstriegel unkrautfrei zu machen.
Frischkur für die Gewässer
Die intensive Landwirtschaft belastet Böden, Gewässer und Meere mit chemisch-synthetischen Pestiziden und großen Mengen von Stickstoff und Phosphor. Die beiden Düngerstoffe haben weltweit bereits enorme Schäden an der Wasserflora und – fauna verursacht. Zu Lande führt das übermäßige Ausbringen von synthetischen Pestiziden und Kunstdünger zu einer Verarmung der Tier- und Pflanzenwelt..
Bio steigert Bodenfruchtbarkeit
Eine Langzeit-Vergleichsstudie des FiBL belegt, dass Biolandwirtschaft die Lebendigkeit und Fruchtbarkeit des Bodens steigert. Konventionell bewirtschaftete Ackerböden schneiden wesentlich schlechter ab. Sie neigen zur Verdichtung und Erosion. Dadurch geht laufend wertvolles Kulturland verloren.
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